Klaviersonate der Klassik

Klaviersonate der Klassik
Klaviersonate der Klassik
 
Die »neue« Gattung der Klaviersonate hat ihre »klassische« Bedeutung im Unterschied zu Streichquartett, Sinfonie und Konzert erst eigentlich durch Beethoven bekommen. Haydn und Mozart kommt dagegen das Verdienst zu, die Klaviersonate aus der Vielzahl der praktizierten Formen damaliger Klaviermusik gleichsam gewonnen und erst zu einer Gattung mit (relativ) festen Gattungsnormen gemacht zu haben. Bis weit in die 1780er-Jahre hinein finden sich bei Haydn Klaviersonaten, die die unterschiedlichsten, vor allem vom mehrsätzigen, suitenartigen Divertimento beeinflussten Züge aufweisen, und einen mehr oder weniger unverbindlichen Unterhaltungston haben, der zu klassischer Kanonbildung noch nicht taugte. Als Typus bildete sich Ende der 1780er-Jahre dann die schon früher neben anderen gepflegte dreisätzige Sonate mit schnellem Kopfsatz in Sonatensatzform, langsamem Mittelsatz und noch schnellerem Rondofinale heraus. Das entspricht der Satzanordnung des Konzerts und zeigt zugleich eine gewisse Distanz zu Streichquartett und Sinfonie. Ähnliches gilt von Mozarts Klaviersonaten, die durchweg dreisätzig sind und ebenfalls erst gegen Mitte der 1780er-Jahre an innerer Bedeutung gewinnen, die der der führenden Gattungen gleichkommt. Freilich sollte nicht übersehen werden, dass auch schon früher vereinzelt Werke entstanden, die im Grunde »klassisches« Niveau und Gleichgewicht der Mittel erreichten, so zum Beispiel Haydns vor 1780 entstandene Klaviersonaten in C- und D-Dur (Hoboken-Verzeichnis XVI:35 und 37) oder Mozarts Sonaten KV 309 bis 311.
 
Die späte Normierung hat wesentlich mit der Funktion der Klaviermusik im 18. Jahrhundert zu tun, die vor allem für andere, meist sogar bestimmte Personen zu privatem, häuslichem Gebrauch oder für den Klavierunterricht komponiert wurden. Mit der Zunahme öffentlicher Konzertveranstaltungen und halböffentlicher Darbietungen in adeligen und bürgerlichen Häusern fand auch die Klaviersonate mehr und mehr Eingang in diese Präsentationsformen von Musik und steigerte dementsprechend ihren kompositorischen und spieltechnischen Anspruch. Doch erst mit Beethovens Auftritten in Wien ab 1792 ist diese Entwicklung an einem Punkt angelangt, die von der Klaviersonate nun gleichsam sinfonische Dimensionen erwarten ließ. Tatsächlich sind die frühen Wiener Klaviersonaten Beethovens sofort viersätzig (mit Einschluss eines Scherzos oder Menuetts), haben damit die äußere Anlage einer Sinfonie und treten entsprechend »groß« im Ton auf. Zugleich jedoch entwickelt Beethoven, der an der Sonate schon deshalb größeres kompositorisches Interesse hatte als Haydn oder Mozart, weil er seine Sonaten meist selbst vortrug, die Art des »großen« Sonatentons weiter und behält ihn auch in der dreisätzigen Sonate bei, zum Beispiel in der eigens so benannten »Grande Sonate pathétique«. Sie ist groß und sinfonisch schon durch die bislang der Sinfonie vorbehaltene gravitätische langsame Einleitung. Andererseits findet Beethoven neue individuelle Lösungen, wie die viersätzige Sonate opus 26, die zwar ein Scherzo, aber statt des Kopfsatzes in Sonatenform einen Variationssatz hat; oder die auch unter dem Titel »Mondscheinsonate« bekannte dreisätzige »Sonata quasi una fantasia« opus 27, Nr. 2 mit dem berühmten langsamen Satz zu Beginn, einem scherzoähnlichen Allegretto in der Mitte und einem »Presto agitato«-Sonatensatz als Finale. Die berühmte »Waldsteinsonate« opus 53 ist (durch Umarbeitung) zweisätzig mit Sonatensatz und einem Schlussrondo, das durch eine langsame Einleitung eröffnet wird.
 
Beethoven hat aus der »privaten« Klaviersonate den Konzert-Typus entwickelt. In ihm hat er auf Anhieb zu seinem eigenen neuen Konzept gefunden, früher noch als in den anderen Gattungen. Immerhin entstand die Hälfte der Sonaten schon vor seinem sinfonischen Schlüsselwerk, der dritten Sinfonie »Eroica«. Das neue Konzept ist umschrieben mit einer neuen Qualität des Charakteristischen, wie es auch an der Entwicklung der Sinfonie bei Beethoven zu erkennen ist. Was in die durch Haydn und Mozart gleichsam festgeschriebene klassische Sinfonie nur allmählich und vorsichtig Eingang fand, konnte in der Klaviersonate als der weit weniger normierten Gattung, die ihre private Herkunft nie leugnete, viel eher heimisch werden. So entstand schon vor der »Eroica« die neue »charakteristische« Sonate, zum Beispiel neben den genannten auch die »kleine Pastorale« opus 28 sowie später die von Beethoven selbst so bezeichnete »Les adieux« (1809/10).
 
Beethovens Klaviersonaten tragen extreme Konflikte aus, ausgeprägte Gegensätze von zerrissener, brüchiger Thematik und innigster Kantabilität, schroffer Akkordik und gewissermaßen nackter Materialität der motivischen Gebilde, jäher Gestik und einer subjektiven, mitreißenden Leidenschaft, schlichtester Satztechniken und höchst komplexer kontrapunktischer Strukturen, torsohafter Fragmentierungen und weitgespannter Bögen, Aufbrechungen der Form, die gleichwohl als solche wirksam bleibt, schon um zum Gegenstand der Auseinandersetzung werden zu können. Die Sonaten wollen, weit mehr noch als die Sinfonien und Konzerte, jeweils als eigene dramatische Handlung gehört werden, ohne sich jedoch wie diese zu einer umfassenden oder gar benennbaren »Idee« zu bekennen. Es bleibt immer eine zwar höchst dramatische und »logische«, aber immer auch eine abstrakte, rein musikalische Handlung. Die Sonaten sind vielleicht Beethovens »ungehemmteste« Gattung.
 
Prof. Dr. Wolfram Steinbeck
 
 
Dahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988.
 
Die Musik des 18. Jahrhunderts, herausgegeben von Carl Dahlhaus. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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